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Unter der Grasnarbe der Gewöhnung

Pfarrbrief vom 06.07.2003:
Die Bewohner des kleinen spanischen Städtchens Merida wussten seit Jahrhunderten, dass ihre Stadt auf einer alten römischen Stadt aufgebaut war. An den Pfeilern der alten Brücke konnte man es noch sehen und außerhalb des Städtchens, dort, wo die Hirten ihre Ziegen weideten, sah man ab und zu unter der Grasnarbe weiße parallele Kanten von Steinen, die auf ein Amphitheater hinwiesen. Irgendwie wusste man das noch in Merida, es hatte aber keine Bedeutung und diente vor allem als Weide für die Ziegen.

Ab und zu, wenn in der gelben Sandsteinstadt ein neues Haus gebaut wurde, stieß man auf alte weiße Marmorblöcke, baute sie entweder in die Häuser ein oder verbrannte sie zu Kalk.

Bis eines Tages Fremde aus Madrid kamen und die Bedeutung der alten römischen Ruinen erkannten. Heute ist Merida die größte ausgegrabene Römerstadt Europas außerhalb von Italien. Unter dem Markt, auf dem die Bewohner des spanischen Provinznestes Gott sei Dank keine Häuser gebaut hatten, fand man noch die Ruinen eines alten römischen Tempels. Heute lebt in Merida keiner mehr von weidenden Ziegen, sondern stolz zeigen die Einwohner auf ihr großes römisches Museum, auf das ausgegrabene Amphitheater und auf den wieder rekonstruierten Tempel in der Mitte der Stadt.

Die Bewohner von Merida hatten über Jahrhunderte von ihren römischen Ruinen gewusst, aber sich so an sie gewöhnt, dass diese Bauwerke langsam unter der Grasnarbe der Gewöhnung ihre Bedeutung verloren.

Es mussten Fremde kommen, um diese Schätze zu entdecken. Nicht anders geht es Jesus heute in seiner Heimatstadt. Die Menschen kennen ihn oder glauben ihn zu kennen und haben sich an ihn gewöhnt. Der Prophet in der Heimat ist wie das Amphitheater unter der Grasnarbe der Gewöhnung.

Deshalb können sie seine Bedeutung nicht erkennen, deshalb konnten sie nicht mehr staunen und nichts mehr erwarten, und wo Menschen nichts mehr erwarten, da kann auch Jesus keine Wunder mehr tun.

Ihr

Wolfgang Ricke
Klinikpfarrer

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