Dom Minden  
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Suchen und Finden

Pfarrbrief vom 07.07.2002:
In meiner Jugendzeit fragte ich einmal einen Bauarbeiter: "Können Sie mir sagen, wie spät es ist?" "Bin ich Jesus?" antwortete er mit einem spöttischen Lächeln. Leider war ich damals noch nicht schlagfertig genug, sonst hätte ich erwidert: "Natürlich sind Sie Jesus! Was wollen Sie denn sonst aus Ihrem Leben machen? Haben Sie schon einen Sinn gefunden für alles, was Sie tun? Sind Sie nicht auch dazu geboren, von der Wahrheit Zeugnis zu geben? Machen Sie sich doch nicht kleiner als Sie sind! Stellen Sie sich einmal vor: Sie und Ihre Frau und Ihr Chef - sind Jesus. Was würde sich ändern auf dieser Erde! Es steckt doch etwas in uns, das größer ist als wir."

Dieses Größere in uns sollen wir suchen. Wir finden es nicht in Illustrierten oder im Geld. Die Kirche lenkt unseren Blick auf die Bibel; in ihr sollen wir suchen - nach Sinn, nach Hintergründen, nach Fundamenten, nach Gott. Das nächste Jahr 2003 wird das "Jahr mit der Bibel" sein. "Suchen. Und Finden" ist sein Thema. Zu Ereignissen wie die vom 11. September in New York oder später in Erfurt zeigt die Bibel Ursachen, Wege und Erklärungen auf. Wir sind eingeladen, nach den Perspektiven Gottes zu suchen, um mit unserem Leben fertig zu werden. Beide großen Kirchen möchten wieder Geschmack an der Bibel vermitteln. Wir sollen Antworten finden vor den Abgründen der Bosheit; wir sollen aber auch entdecken, wer wir sind und was es heißt, wenn Jesus sagt: "Wer meine Worte hört und danach handelt, ist wie ein kluger Mann, der sein Haus auf Fels baut" (Mt 7,24).

Niemand kann sagen, "ich verstehe die Bibel nicht, sie ist viel zu schwierig und zu kompliziert," wo doch Jesus im heutigen Evangelium den Vater preist, weil er alles "den Unmündigen offenbart hat" (Mt 11,25). Wer in der Bibel sucht, der findet auch, vielleicht den Auftrag: Schuldigen verzeihen, Leidenden helfen, Kranken die Hand reichen und denen beistehen, die "schwere Lasten zu tragen haben" (Mt 11,28). Ein solcher Auftrag ist sehr menschlich, aber auch göttlich. Darum sind Sie Jesus.

Wenn ich die Antwort sofort hätte geben können, würde der Bauarbeiter sicher nach Luft geschnappt und zum ersten Mal in seinem Leben ernsthaft über Jesus nachgedacht haben. Vielleicht hätte er gespürt, dass Jesus eine Realität mitten im Alltag ist. Schon mehrmals habe ich erfahren, wie verblüfft Menschen gewesen sind, wenn ich vor ihnen ohne Umschweife direkt von Gott gesprochen habe. Sie sind verwundert, ihm nicht in frommen Geschichten, sondern mitten im Tagesgeschäft zu begegnen. Für viele ist der Himmel verschlossen; sie laufen nur ihren eigenen Spuren nach. Damit machen sich die Menschen kleiner als sie sind. Die Bibel enthält Spuren des Göttlichen, Spuren Jesu; wenn wir ihnen folgen, finden wir, wie etwas von Gott in uns steckt. Natürlich sind Sie Jesus! Wer in der Bibel liest, wird merken, dass die irdischen und die himmlischen Straßen nicht auseinander laufen, sondern miteinander verwoben sind.

Dorothee Sölle empfiehlt für die Suche nach Jesus: "Vergleiche ihn ruhig mit anderen größen / Sokrates / Rosa Luxemburg / Gandhi / er hält das aus / Besser ist allerdings / du vergleichst ihn / mit dir." Bei diesem Vergleich werden wir viele Defizite bei uns entdecken, aber auch: in jedem steckt etwas von Gott.
 
Ihr

Paul Jakobi
Propst

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