Dom Minden  
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Nachbeben

Pfarrbrief vom 30.09.2001:
Jedes Erdbeben versetzt die Bewohner des betroffenen Gebietes in Angst und Schrecken. Die Angst, in einem schwankenden und einstürzenden Haus mit in die Tiefe gerissen zu werden, ist von lähmender Gewalt. Alle Hausbewohner flüchten die Treppen herunter und rennen um ihr nacktes Leben. Nur aus dem Haus, um nicht lebendig begraben zu werden. Wenn nach einigen Tagen das Hauptbeben vorbei ist, bleibt doch der Schrecken vor weiteren Erschütterungen. Kleine Nach-Beben nähren die Angst, mitten im Schlaf von einem neuen Erdbeben überrascht zu werden. Erst nach einer langen Zeit der Ruhe werden auch die Menschen etwas ruhiger. Aber ganz weicht die Angst nicht mehr.

So ähnlich geht es der Weltbevölkerung nach den Terrorakten in New York. Noch werden wir die Schreckensbilder nicht los, die immer wieder im Fernsehen gezeigt wurden. Langsam kristallisiert sich auch die genaue Zahl der Toten heraus, die kaum noch zu finden oder zu identifizieren sind. In allen Teilen der Welt haben Gläubige und Nicht-Gläubige an den Klagemauern gestanden, um ihr Entsetzen und ihr Leid auszudrücken. Wir können die Zahl derer nicht schätzen, die still oder in Gottesdiensten im Dom gebetet oder eine Kerze entzündet haben. Die Betroffenheit des Volkes war riesengroß. Wird sie anhalten? Wie lange? Wird bald alles vergessen sein oder werden wir umdenken?

Ein Besucher des Domes hat in das ausgelegte Kondolenzbuch geschrieben: Ein neues Jahrhundert der Unsicherheit hat begonnen. Ist das Nach-Beben dieser Katas-trophe vielleicht mit Unsicherheit zu umschreiben? Betroffen gemacht hat uns nicht nur die Macht und Perfektion des Bösen, nicht nur seine Schläue oder überhaupt seine Existenz, sondern vor allem unsere eigene Ohnmacht. Können eigentlich Menschen das Böse besiegen?

In den letzten Jahren und Jahrzehnten haben uns die riesigen Fortschritte in Technik, Wissenschaft und Forschung in ein Gefühl maßloser Sicherheit versetzt. Auf, bauen wir uns eine Stadt und einen Turm mit einer Spitze bis zum Himmel (1 Mos 11, 4). Hinter dieser biblischen Aussage steht die Gewissheit der Menschen, sich selber schützen zu können. Wir suchen unsere Sicherheiten in eigenen irdischen Erfolgen. Dieser menschliche Wahn ist zerstört. So ist eine neue Angst vor der Zukunft aufgebrochen, die als geistiges Nach-Beben dieser schrecklichen Katastrophe in Amerika bezeichnet werden kann. Warum gibt es nur eine Klagemauer, warum hat noch nie jemand eine Freudenmauer geplant? fragt Ingeborg Bachmann. Könnte die Verunsicherung, die uns erfasst hat, uns nicht anregen, nach einer Versicherung zu suchen, die nicht von dieser Welt ist?

Das heutige Evangelium schildert uns eine Situation, in der 10 Aussätzige in tiefer Verzweiflung rufen: Jesus. Meister, hab Erbarmen mit uns! (Lk 17, 13). Jesus hört den Schrei; er selbst erweist sich als die Freudenmauer, an der sich die Bitte um das göttliche Erbarmen in Heil verwandelt. Wir Menschen können uns keine letzten Sicherheiten geben. Unsere Sicherheit liegt in Gott. Darauf verweist uns die Bibel auf jeder Seite. Warum nehmen wir dieses Angebot nicht an? Könnte das Nach-Beben die Welt nicht nachdenklich machen? Ein Ehepaar hat in unser Kondolenzbuch geschrieben: Herr, wir legen alles in deine Hände. Dieses Paar hat es begriffen.
 
Ihr

Paul Jakobi
Propst

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