Dom Minden  
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Zum Streit um das Kopftuch

Pfarrbrief vom 05.10.2003:
Bei einer Führung muslimischer Frauen durch den Dom überraschte uns vor der Pieta-Kapelle eine Muslimin mit der Frage, warum wir gegen das Kopftuch wären, während Maria es doch tragen würde. Tatsächlich sind alle Frauenfiguren der Goldenen Tafel, des Matthiasaltars, des Gert-van-Loon-Bildes und vor allem auch die Emerentia-Selbviert mit Kopftüchern versehen. Manchmal kann man sogar an ihnen die Altersbeschreibung erkennen. Auch in heutiger Zeit begegnet uns der Gebrauch des Kopftuches unter Christen. Alle Frauen, die zu einer Papstaudienz in Rom geladen sind, müssen ein Kopftuch tragen; dabei spielt es keine Rolle, ob sie Christen, Juden oder Muslime, ob sie einfache Bürgerinnen oder die Ehefrauen von Staatspräsidenten sind. Die Männer, die heute eine Synagoge betreten, erhalten eine Kopfbedeckung. Die Israeliten haben immer aus Ehrfurcht vor der Gegenwart Gottes ihr Haupt bedeckt. Das Tragen des Kopftuches ist eine alte Tradition der Menschheit.

Durch den starken Zuzug der Muslime nach Deutschland spitzt sich in unserem Land diese Thematik zu; sie hat zu einem Streit geführt, der sogar das Bundesverfassungsgericht beschäftigt hat. Solange die verschiedenen Kulturen getrennt voneinander leben konnten, hat sich das Problem nicht gestellt. Nun aber ist eine nie gekannte Nähe zwischen Christen und Muslimen entstanden, so dass plötzlich vor allem juristische Probleme auftauchen: Darf in einem weltanschaulich neutralen Staat wie Deutschland eine muslimische Lehrerin vor ihrer Klasse ein Kopftuch tragen? Wird hier nicht die staatliche Neutralitätspflicht der Schule verletzt? Ist das Kopftuch ein Instrument zur Unterdrückung der Frauen, was in Deutschland nicht gestattet werden dürfte? Andererseits wird dagegen gehalten, dass in Deutschland jeder Mensch, auch der Lehrer und die Lehrerin ein Recht auf Religionsfreiheit haben. Hier stoßen unterschiedliche Auffassungen aufeinander, die nur schwer in Übereinstimmung zu bringen sind. Wie soll der Staat reagieren?

In der jüngeren Vergangenheit wurden wir schon einmal mit einem ähnlichen Problem konfrontiert. In ihm ging es um die Frage, ob in einer weltanschaulich neutralen Schule Kreuze aufgehängt werden dürfen. Auf der einen Seite ist unser Land seit weit über 1000 Jahren christlich geprägt - unser Dom ist ein lebendiger Zeuge! -, auf der anderen Seite darf keinem Menschen - auch keinem Kind - der christliche Glaube aufgezwungen werden.

Das BVG hat die Bundesländer angewiesen, eine gesetzliche Grundlage zu schaffen, um aus diesem Dilemma herauszukommen. Einige Länder haben bereits eine strenge Regelung angekündigt, andere wollen sie offener handhaben.

Wie aber soll die Kirche sich verhalten? Als Christ möchte ich für eine tolerante Regelung werben. Eines der wichtigsten Dokumente des 2. Vatikanischen Konzils ist das der Religionsfreiheit, in dem es heißt: „In religiösen Dingen darf niemals jemand gezwungen werden, gegen sein Gewissen zu handeln... Dieses Recht der menschlichen Person auf Religionsfreiheit muss in der rechtlichen Ordnung der Gesellschaft so anerkannt werden, dass es zum bürgerlichen Recht wird“ (Nr. 2). An anderer Stelle (Nr. 7) folgt eine Empfehlung, die wir uns auch im Streit um das Kopftuch zu eigen machen könnten: „Man soll in der Gesellschaft eine ungeschmälerte Freiheit walten lassen, wonach dem Menschen ein möglichst weiter Freiheitsraum zuerkannt werden muss, und sie darf nur eingeschränkt werden, wenn und soweit es notwendig ist.“

Besteht im Streit um das Kopftuch in der Schule eine Notwendigkeit, das Freiheitsrecht einzuschränken? Tragen nicht viele christliche Lehrerinnen vor ihrer Klasse aus wirklicher Glaubensüberzeugung ein Kreuz an ihrem Hals? Haben nicht unsere Schwestern der Christlichen Liebe auch an staatlichen Schulen jahrzehntelang in ihrer Ordenstracht Unterricht erteilt? Hängt nicht in vielen Klassen immer noch ein Kreuz an der Wand?

Aus der Weite des Evangeliums heraus plädiere ich für eine tolerante Haltung. Wenn eine muslimische Lehrerin ein Kopftuch als Symbol islamischer Identität und als Ausdruck einer Gottesbeziehung trägt, kann ich darin keinen Verstoß gegen den christlichen Glauben erkennen. Vielleicht ist ein solcher Hinweis auf die Existenz Gottes sogar für uns Christen wichtig, weil er uns in dieser diesseits orientierten Welt nachdenklich machen kann. „Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns“ (MK 9,40), hat Jesus gesagt.

Ihr

Paul Jakobi
Propst

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