Dom Minden  
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Ein bisschen Gott

Pfarrbrief vom 09.03.2003:
Rabbi Baruchs Enkel, der Knabe Jechiel, spielte einst mit einem anderen Knaben Verstecken. Er verbarg sich gut und wartete, dass ihn sein Gefährte suche. Als er lange gewartet hatte, kam er aus dem Versteck; aber der andere war nirgends zu sehen. Nun merkte Jechiel, dass jener ihn von Anfang an nicht gesucht hatte. Darüber musste er weinen, kam weinend in die Stube seines Großvaters gelaufen und beklagte sich über den bösen Spielgenossen. Da flossen Rabbi Baruch die Augen über, und er sagte: „So spricht Gott auch: Ich verberge mich, aber keiner will mich suchen.“ (Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim).

Es gibt heute einen Atheismus, der Gott im Munde führen kann, ohne ihn ernsthaft zu meinen. Wir machen in der Seelsorge häufig die Erfahrung, dass vielen Menschen ein „bisschen Gott“ genügt. Dieses „bisschen Gott“ ist eine wunderbare Verzierung etwa für eine Trauung. Zu ihr gehören die schöne Kirche, das zu Herzen gehende Orgelspiel, der vertraute Gesang, der würdige Priester und die feierliche Liturgie. Wo kann man „draußen“ einen solchen festlichen Rahmen schaffen? Oder die Erstkommunionfeier: die Mädchen ganz in weiß, die Jungen in schwarz. Die brennenden Kerzen in ihren Händen spiegeln sich in den strahlenden Augen ihrer stolzen Eltern wieder. Die Konsequenzen aus dieser Feier mit ihren Veränderungen und Auswirkungen im Leben der Kinder werden nicht bedacht. Ein „bisschen Gott“ für den Augenblick genügt. Und wie grausam ist es, einen Toten ohne Priester in die Erde zu senken. Nach Leben und Auferstehung muss man nicht fragen; Hauptsache, ein „bisschen Gott“. Weihnachten - ohne Gedanke an die Menschwerdung Gottes. Ein „bisschen Gott“ in der Christmette genügt für das ganze folgende Jahr. So könnten wir das „christliche Leben“ unter diesem Gesichtspunkt durchbuchstabieren.
Weil viele Menschen sich auf das „bisschen Gott“ beschränken, wissen unsere Kinder kaum etwas vom Geheimnis des großen Gottes. Wer sollte es ihnen auch vermitteln? Der Teufel, der Jesus in die Wüste führte und ihm ein „bisschen Gott“ beibringen wollte, hat bei uns Christen überragenden Erfolg. Das „bisschen Gott“ beruhigt uns; es genügt.

„Keiner will mich suchen“, zitiert der Rabbi seinen Gott. Gegen dieses Desinteresse vieler Menschen stellt die Kirche die Fastenzeit mit dem Wort des heutigen Evangeliums: „Bekehrt euch und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,15). Mit diesem Wort wurde uns das Aschenkreuz auf die Stirn gemalt. Dieses Christuszeichen, das von Leben und Tod spricht, protestiert gegen die Auffassung, ein „bisschen Gott“ würde für das Leben genügen. Die Kirche lädt uns ein, uns in der Fastenzeit auf die Suche zu machen nach dem wahren und lebendigen Gott, der uns in der Bibel, in den Menschen, im Gottesdienst und auch in weltlichen Ereignissen begegnet. Er ist der Gott, der die Welt trägt, der uns das Leben schenkt und unser letztes und ewiges Ziel ist. Auf ein „bisschen Gott“ können wir nicht bauen. Ein „bisschen Gott“ ist eine der Versuchungen, von denen die Bibel spricht. Wer aber aus dem Evangelium lebt und nach dem großen Gott sucht, der wird erfahren, dass auch ihm Engel dienen. Und wenn Engel bei uns sind, dann kann uns nichts aus der Bahn werfen.

Ihr

Paul Jakobi
Propst

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