Dom Minden  
  ARCHIV | PFARRBRIEFE  

Ein Buch mit sieben Siegeln?

Pfarrbrief vom 26.01.2003:
Die einen sagen, „die Bibel ist ein Buch mit sieben Siegeln“, die anderen: „Ohne die Bibel versteht man nichts.“ Diese Spannweite des Urteils macht die Bibel interessant. Wenn die Meinungen über dieses Buch so sehr auseinandergehen, dann ist es reizvoll, sich selbst ein Urteil zu bilden. Das „Jahr der Bibel 2003“ ist eine willkommene Gelegenheit, nach der Bedeutung und den Schätzen der Bibel für unser Leben zu suchen.

Heinrich Heine bezeichnete die Bibel als den größten Schatz, den das Judentum besitze, größer als alle Kostbarkeiten des Jerusalemer Tempels zusammen. Was aber heißt „Schatz“? Sollen wir diesen Schatz in der Schatzkammer aufbewahren, damit er nicht gestohlen wird? Ist er so kostbar, dass niemand ihn bezahlen könnte? Liegt der Wert dieses Schatzes in seiner Einmaligkeit? Sollen wir ihn hüten, weil er mit Gott zu tun hat? Ist Gott der Autor dieses Buches, so dass alle Worte darin überirdischen Charakter haben?

Die Bibel ist kein Museumsstück, sondern unser Leben! Wer sich mit ihr befasst und die Gitter der sieben Siegel beiseite schiebt, der findet sich selbst. Unser Leben ist in die Bibel hineingeschrieben oder auch umgekehrt: Wer in die Bibel schaut, entdeckt auf neue und tiefere Weise sein Leben. „Ohne die Bibel versteht man nichts“ - von der Ewigkeit, vom Sinn des Leidens, vom letzten Glück, von der Bestimmung des Menschen. Auch ohne die Bibel kann man Deutungen versuchen, aber sie stehen auf schwankendem Boden und sind Irrwegen und Täuschungen ausgesetzt. Mit der Bibel finden wir festen Grund unter den Füßen und Erklärungen, die unserem Leben Halt geben. Jedes Wort der Bibel spricht in unsere Zeit und bezieht jeden Menschen in das geheimnisvolle Wirken Gottes ein. Die Bibel ist spannend wie ein Krimi, sobald wir erkennen, dass sie nicht vom Damals, sondern vom Heute spricht, nicht von einer biblischen Person, sondern von dir und mir. Die Beschäftigung mit der Bibel ist ein Gespräch, bei dem Gott unser Partner ist. Er deckt das Geheimnis auf, das in jedem Ereignis, in jedem Wunder oder in jeder Erzählung versteckt ist. Wir fragen uns: Was will er uns damit sagen? Wie können wir den verborgenen Schatz heben und ihn in unser Leben einbauen? So werden allmählich die Siegel „gesprengt“ und die Bibel wird zum „wichtigsten Buch“ (Brecht).

Vielleicht ist es schwer, das Buch allein aufzuschließen und die Schätze zu heben. Dann kommt das Gespräch zu Hilfe; der eine entdeckt dieses, der andere jenes. Aber immer hat die Botschaft Gottes mit unserer eigenen Biographie zu tun. Ein Erlebnisbericht aus der Vergangenheit wäre langweilig; man kann sich dafür interessieren, wie man sich für ein fernes Land oder für eine ausgestorbene Kultur interessiert. Die Bibel ist nicht ferne Vergangenheit oder tote Geschichte, sondern von höchster Aktualität. Die Bibel ist heute! Wer sie hört, hört etwas über sein Leben. Im Gespräch über die Bibel können unterschiedliche Botschaften vernommen werden; darum ist der Gedankenaustausch so fruchtbar. Immer gilt das Wort Jesu: „Heute hat sich das Schriftwort, dass ihr eben gehört habt, erfüllt“ (Lk 4,21). In diesem Heute liegt die Dramatik des Evangeliums.

Ihr

Paul Jakobi
Propst

zurück