Dom Minden  
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Novembergedanken

Pfarrbrief vom 17.11.2002:
Vor keinem Monat fürchten sich die Menschen so sehr wie vor dem November. Der Sommer hat sich verabschiedet, die Gartenstühle sind im Keller verstaut. Das gefärbte Laub fällt von den Bäumen. Literarisch interessierte Menschen werden an die eindrucksvollen Verse von R. M. Rilke erinnert:

  Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Die Natur stirbt; die Bäume werden kahl. Die erleuchteten Fratzen aus den ausgehöhlten Halloweenkürbissen sind keinerlei Trost. Im Gegenteil - sie jagen neue Ängste ein. Das Wetter ist ungemütlich. Der grau verhangene Himmel lässt keine Sonnenstrahlen durch, Nebelschleier machen das Land undurchsichtig und für Autofahrer gefährlich.

  Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
kein Baum sieht den andern,
jeder ist allein.

So sagt H. Hesse in einem Gedicht. Busch und Stein sind Metaphern für die Menschen. Im November wird der Mensch einsam; er wagt sich nur ungern auf die Straße. Im Sommer fanden Feste und Feiern statt; man traf sich bei Freunden. Gemeinsam radelten sie mit ihren Familien durch die Felder, Kirchen wurden erkundet, Bekannte besucht, Spiele organisiert.

  Nun, da der Nebel fällt,
ist keiner mehr sichtbar.

Leben ist Einsamsein. In der Zeit des November spielt sich viel zu Hause ab. Die Oma strickt Socken für ihre Kinder; man schreibt Briefe, sortiert die Fotos, liest vielleicht auch ein Gedicht. Vitamintabletten werden bereitgelegt, heißer Tee gekocht, die Zeit vor dem Fernseher verlängert. Die "fröhlichen" Sendungen sollen Abwechslung in den grauen Novemberalltag bringen. Allerheiligen und Allerseelen, Volkstrauertag und Totensonntag erinnern an die verstorbenen Verwandten und Freunde. Der eine oder andere trauert, weint, denkt an seinen eigenen Tod. In dieser Untergangsstimmung hat keiner die Kraft, an den nächsten Sommer zu denken. Wer weiß, was dann ist? Der Gang zum Friedhof, die angezündete Kerze auf dem Grab, das niedergelegte Tannengesteck vermitteln das Gefühl, für den Toten etwas Gutes getan zu haben. Aber die Kerze erlischt, die Blume welkt und die herabgefallenen Blätter bedecken das Grab. Alles ist wieder wie vorher. Wie oft haben mir Bekannte gesagt: "Wäre doch der November vorbei. Könnte ich ihn überspringen. Sogar Gesunde werden in dieser Zeit depressiv."

Ja, es ist so. Wir sollten unsere Gefühle nicht unterdrücken. Dennoch möchten wir fragen, ob es gar kein Lächeln im Gesicht des "Totenmonats" gibt? Machen wir nicht Erfahrungen, die sonst im Laufe des Jahres verdrängt werden? Werden wir nicht wesentlicher, tiefer, menschlicher? Entdecken wir nicht Dinge, die auch zum Leben gehören, wie Abschied und Trauer? Sind Traurigkeiten nicht doch untrennbar mit dem Menschsein verbunden? Brauchen wir nicht Zeiten und Orte zum Trauern? Wird uns in diesem Monat nicht besonders bewusst, dass wir nicht alles vermögen, keine Götter, also sterblich sind? Kann der November nicht Lebenskorrektur bedeuten?

Rilke hat diese Ambivalenz des Menschen in den unbeschreiblich trostvollen Vers gekleidet:

  Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

 
Ihr

Paul Jakobi
Propst

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